Rechtschreibung gegen Schlechtschreibung

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"Bravo!" möchte man den drei Zeitungsverlagen zurufen, die es gewagt haben, der Rechtschreibreform eine Absage zu erteilen. Und das, obwohl die Kultusminister eben erst beschlossen hatten, sie endgültig verbindlich zu machen. Doch gerade dies ist der unmittelbare Anlaß, die Notbremse verantwortungsbewußter Verleger angesichts vieler Verstümmelungen der Sprache durch eine angebliche Reform. Die Abkehr von den neuen Regeln erfolgt aus Rücksicht auf die große Mehrheit der Leser und Autoren und in Sorge, daß die Einheit der deutschen Rechtschreibung und die Achtung vor dieser Sprachnorm verloren geht. Im übrigen hatten die Kultusminister stets erklärt, ihre Reform gälte nur für Schulen und Behörden. Sonst könne jeder schreiben, wie er wolle. Das war natürlich ein getürktes Argument. Denn selbstverständlich erwarteten sie, daß die schreibende Welt ihrem Vorbild folgt. Und sie wähnten sich bereits auf der Siegerstraße, als die Presseagenturen und die allermeisten Zeitungen und Fernsehstationen den Vorgaben der Politik folgten. Sie taten es damals, um die Einheit der Rechtschreibung zu erhalten, nicht aus Überzeugung, daß diese Reform gelungen sei. Gerade unter den Publizisten war die Frustation über viele Eingriffe in die vertraute Schreibung groß. Schließlich hatten sie die Erwartung, daß die gröbsten Mängel während der Erprobungsphase beseitigt würden. Aber eben dies unterblieb. Von Anfang an galt die Devise der Politik: Augen zu und durch. Bis zum Ende der Übergangszeit sollten die Regeln keinesfalls geändert werden. Diese Haltung zeigte sich besonders deutlich, als ein Volksentscheid in Schleswig-Holstein die Einführung der neuen Regeln in der Schule unterband und sich schon in Jahresfrist der Landtag über dieses Votum hinwegsetzte. Jetzt haben die Zeitungsverlage der Stimme des Volkes erneut Ausdruck verliehen.

Mit der Abkehr von der Reform durch drei weitere große Zeitungsverlage wird ein Grundkonflikt sichtbar, den die Kultusminister stets haben verschleiern wollen. Daß es hier nicht allein und nicht in erster Linie um die Schulen geht, sondern um das Einverständnis der ganzen Sprachgemeinschaft, insbesondere aller betroffenen Publizisten und Schriftsteller, der Lehrer und Wissenschaftler und schließlich aller Leser. Wenn nun eingewandt wird, einige Schülerjahrgänge seien schon mit der neuen Rechtschreibung aufgewachsen, ihnen sei ein Zurück nicht zuzumuten, dann wird erneut versucht, die Rechtschreibfrage auf ein Schulproblem zu reduzieren. Dies haben die Kultusminister durch die voreilige Einführung ihrer Reform selbst geschaffen, obwohl sich schon früh ein unübersehbarer Widerstand bei allen Betroffenen abzeichnete. Die Schule war das Trojanische Pferd der Rechtschreibreform.

Aber sind denn alle Teile der neuen Rechtschreibung völlig unsinnig? Mußte es gleich ein Rückzug in die alten Duden-Regeln sein, die ja auch verschiedene kleinere Mängel aufwiesen. Der Duden-Verlag hatte den Kontakt zur Schriftforschung verloren, die Darstellung der Regeln wirkte unpräzis und unvollständig, eben aus dem 19. Jahrhundert. Im Bestreben, dem Schreibgebrauch zu folgen und alle Nachfragen zur Rechtschreibung zu befriedigen, wurden auch allerlei Spitzfindigkeiten in den Duden aufgenommen, die entbehrlich sind. Hier konnte sich der Hang der Deutschen zur Überregulierung austoben. Auch wenn es keinen allgemeinen Wunsch nach einer Rechtschreibreform gab, sahen doch viele ein, daß eine neue Gesamtdarstellung der Regeln sinnvoll sei. Was die Kultusminister übersahen, war dies: sie hatten den Auftrag an eine reformeifrige Kommission erteilt, die sich in der Tradition vieler gescheiterter Rechtschreibreformen der Vergangenheit sah und nun endlich Remedur schaffen wollte in der deutschen Rechtschreibung. Was schon der Altvater der Germanistik, Jacob Grimm, vergeblich betrieben hatte, die Abschaffung der deutschen Substantivgroßschreibung, war oberstes Ziel. Zur Ehre der Kultusminister und ihrer Arbeitsgruppe Rechtschreibreform muß man sagen: das haben sie im Frühstadium verhindert. Dagegen waren sie hilflos bei all den anderen Änderungen, deren Bedeutung und Reichweite sie nicht erkannten. Völlig unerfahren in Fragen, wie die Ö ffentlichkeit auf Sprachreformen reagiert, erkannten sie nicht, was für ein Kuckucksei im Nest lag.

Jetzt wissen es alle und es gilt, einen Weg aus der Sackgasse zu finden. Der Versuch einiger Kultusminister, einfach durchzustarten, weil die Reform nun einmal begonnen wurde, kann nicht gelingen. Auch der Hinweis auf ihre derzeitige Beschlußlage ist wertlos. Wie oft haben Politiker schon ihre Absichten und Ziele geändert, wenn sie nicht durchsetzbar waren. Doch gibt es Signale für eventuelle Kompromisse. Die reformkritischen Verlage deuten an, daß sie gewisse Änderungen akzeptieren könnten. Aber welche und wer soll dies ausarbeiten? Die neue Geschäftsgrundlage müßte die bisherige, die bewährte Rechtschreibung sein. Nur wo die Neuregelung mehrheitlich als besser oder zumindest als gleichgut eingeschätzt wird, könnte dies in eine neue Gesamtdarstellung aufgenommen werden. Insofern hat sich die Beweislage umgekehrt. Im Zweifel bleibt alles beim alten. Die bisherige, seit über hundert Jahren gültige Rechtschreibung besitzt Vorrang vor allen unnötigen und strittigen Korrekturen. Die Schriftkultur eines Landes lebt von der Kontinuität der Orthographie.

Was könnte bleiben von der Reform? Viele deuten bereits an: die ss-Schreibung. Sie prägt wegen ihrer Häufigkeit das Bild der Reform, sie paßt in das System der Stammschreibung, die für die deutsche Orthographie charakteristisch ist und sie ist der einzige Punkt der neuen Rechtschreibung, der bereits im Anfängerunterricht vermittelt wird. Eine Beibehaltung würde die meisten Einwände gegen die grundsätzliche Umkehr in der Rechtschreibfrage überflüssig machen. Denn jetzt ginge es nur noch um die vielen Unsinnigkeiten, die der Stein des Anstoßes sind: die verfehlte Getrenntschreibung, die widersinnige vermehrte Großschreibung, verkehrte Worttrennungen, falsche Etymologien, Verzicht auf Kommata usw. Allerdings war die Umstellung von daß zu dass völlig überflüssig. Wenn man die Verschiedenschreibung von Pronomen und Konjunktion beibehalten wollte, war die Erhaltung von daß einfacher und augenfälliger. Überhaupt ist es unnötig, in der Frage von ß und ss einen Zwang auszuüben. Beide Varianten sollten fürs erste nebeneinander gelten. Das kann man auch auf Fremdwörter anwenden. Delphin oder Delfin können ebenso zulässig sein wie Photo und Foto.

Wer aber sollte einen solchen Kompromiß aushandeln? Die Kultusminister wollen offenbar jetzt schleunigst den 'Sprachrat für Deutsche Rechtschreibung' begründen. Er tritt die Nachfolge der Zwischenstaatlichen Kommission und ihrer Beiräte an und wird wohl den Auftrag erhalten, die Reform mit ein paar zusätzlichen Zugeständnissen zu retten. Dort sollen, wie es heißt, auch Gegner der Reform vertreten sein. "Auch". Das heißt die Mehrheit wird aus den alten Kämpen der Reform bestehen oder ihren ideologischen Anhängern. So wird man niemals eine Lösung finden, die von allen Betroffenen akzeptiert werden kann. Solange die Kultusminister auf ihrem Regelungsmonopol bestehen und an ihrem Reformwerk festhalten, wird es keinen Rechtschreibfrieden geben. Ein Sommertheater? So darf man die Zuspitzung der Auseinandersetzung kurz vor der Entscheidung nicht nennen. Noch nie hat es in den deutschsprachigen Ländern eine so heiße, so lange und so unerbittlich geführte Debatte um ein kulturelles Thema gegeben. In Skandinavien nennt man das eine Kulturdebatte. Weder Verniedlichung noch Panikmache werden diesem Problem gerecht. Das sollten alle bedenken, die ein Ende des Konflikts herbeiwünschen.

Horst Haider Munske

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